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Neulich in... Bayern


Was Journalismus und Bahn gemeinsam haben


Ja, es hat geschneit. Viel sogar. Um mich herum höre ich Freunde und Bekannte (fast alle regelmäßige Autofahrer) schimpfen, warum es denn die Bahn nicht schaffe, endlich wieder zum Normalbetrieb zurückzukehren.


Einer der Schimpfer ist übrigens ehemaliges Bahnvorstands-Mitglied aus dem Norden – und er fragt allen Ernstes mich, was da los sei in Bayern.

Also ich schnell ein paar Antworten aus dem Ärmel geschüttelt:

1.     Bahnstrecken müssen abgeflogen werden, um mögliche Schäden zu lokalisieren.

2.     Umgestürzte Bäume müssen weggeräumt werden.

3.     Durch Bäume abgerissene Oberleitungen müssen repariert werden.

4.     Eingefrorene Weichen müssen enteist werden.

5.     Das alles ohne zusätzliches Personal, denn es gibt auch in Bayern keine schnelle Eingreiftruppe, die bei besonderen Wetterereignissen mal schnell mobilisiert werden kann, um aufzuräumen.

 

Weiß ich das alles wirklich? Nö. Denk ich mir so. Also mal schnell die Berichterstattung der letzten Tage recherchiert, damit ich Belege für meine Annahmen finde. Allerdings: Ich finde fast nichts. Genauer: Ich finde nichts Fundiertes. Verlautbarungen und Reporterschalten gibt es viele, aber kaum Beiträge, die Antworten auf meine Fragen geben und diese Antworten mit Bildern und Details belegen. Stattdessen nichts sagende Schlagworte: Schnee-Chaos! Bahn-Versagen! Schnee-Ungeheuer!


Keine Reportagen über den Einsatz der Reparaturtrupps und ihre Mühen, die Gleise wieder frei und die Züge fahrtüchtig zu bekommen. Keine Erklärstücke, die Pendler*innen und Schüler*innen klar machen, warum es von Traunstein nach München fünf Tage lang nur eine mögliche Verbindung gab: die mit dem Privat-PKW über die Autobahn, weil keine Bahnen fuhren und Ersatzbusse offenbar auch nicht bereitstanden. Immerhin ein paar oberflächliche Berichte, die die Zahl der schienengebundenen Schneeräumfahrzeuge in ganz (!) Bayern mit 13 angeben und bei der Bahn 13.000 unbesetzte Stellen konstatieren – die wenigsten davon dürften allerdings Schneeräumer und Oberleitungsreparierer betreffen.

Immerhin finde ich im Online-Angebot der Süddeutschen Zeitung eine Reportage aus dem Jahr 2019, die durch teilnehmende Beobachtung klar macht, warum Schnee und Eis eben kein Männerschnupfen sind, der eine Kleinigkeit ist, sondern wirklich wie Sand im Getriebe (herrje, was für schiefe Bilder!): Ein Reporter mit Pickel, Schaufel und einem 70-Tonnen-Schneepflug unterwegs auf verschneiten Gleisen von München nach Schliersee. Fünf Arbeiter sitzen im Räumgerät und an jeder Weiche müssen sie aussteigen, um dort von Hand Eis und Schnee rauszupulen.

Aha. Damals ging das genaue Hinschauen im Journalismus wohl noch. Ende 2023 offenbar weniger. Kann es sein, dass auch im Journalismus Personal fehlt? Oder mangelt es an Ausrüstung - etwa Stiften, Computern und Kameras? Oder mag niemand mehr rausgehen und recherchieren, weil es ja das Internet gibt? Oder sind Reporter-Aufsager und aufbereitete Verlautbarungen heute das, was wir als Journalismus bezeichnen?


Meine morgendliche kleine, zweistündige Internet-Recherche (ich gehe nämlich auch nicht mehr raus, nur mit dem Hund) über die Berichterstattung der vergangenen fünf Schneetage, ist sicher nicht vollumfänglich. Ganz sicher gab es einzelne gut recherchierte Geschichten mit Antworten. Sie haben mich allerdings nicht erreicht - trotz fleißigen Medienkonsums. Kleiner Selbsttest: Sucht mal im Internet Bilder und Videos (von Medienunternehmen wohlgemerkt!), die Räumtrupps an Gleisen oder Techniker an Oberleitungen zeigen. Dass ich nach zwei Stunden Internetrecherche immer noch nicht mehr weiß als meine selbst aus dem Ärmel geschüttelten Vermutungen (s. oben), finde ich ein wenig bestürzend.

 


Mein über die Bahn schimpfender Bekanntenkreis schimpft übrigens auch gerne in meiner Gegenwart über den Journalismus – und gelegentlich fehlen mir gute Rechtfertigungen für meine Zunft. So auch heute!


Deshalb ein paar Bitten an alle Journalist*innen:


1.     Die in den ersten zwei Schneefall-Tagen ständig zu hörenden Aufforderung „Bleiben Sie zu Hause!“ sollte zumindest nach dem Schneefall nicht für Journalisten gelten. Geht raus, schaut was los ist, zeigt und erklärt, was passiert. Damit ich am Schliersee nicht unwissend darüber philosophieren muss, warum es so lange dauert, bis die Bahn wieder fährt.


2.     Die vielen Aufsager von BR-Korrespondenten von verschneiten Straßen, leeren Bahnhöfen und beim Schneeräumen im heimischen Hof waren nett. Aber wir Journalisten sind nicht nur dazu da, aktuelle Stimmungen per Reporterschalten zu verbreiten, sondern zu zeigen, was wo warum passiert; nur so können wir Ursachen und Zusammenhänge herausarbeiten – kurz gesagt: in die Tiefe zu gehen. Dafür muss man raus, hinschauen, verstehen, nachhaken, resümieren.


3.     Alle Medienhäuser achten heute darauf, „was trendet“ – also welche Suchanfragen aktuell im Internet gestellt werden, denn daraus kann durchaus ein mögliches Publikumsinteresse abgeleitet werden. Das sollte aber keinesfalls den journalistischen Instinkt und eigenes (Nach-) Denken ersetzen.


4.     Ressourcen sind knapp – nicht nur bei der Bahn, sondern auch bei den Medien. Deshalb ist „more oft he same“ der falsche Weg, mit knappen Ressourcen umzugehen. Die immer gleichen nichtssagenden Meldungen auf allen Kanälen brauche ich nicht! Vielmehr bekomme ich ein Gesamtbild der Lage durch viele verschiedene Einzelantworten mit gut beobachteten Details – und bitte von dort, wo etwas passiert. Die Mikrofonhalter, die vor symbolischen Kulissen Agenturmeldungen zusammenfassen und Halbgares aus den Social-Media-Kanälen, brauche ich nicht.


5.     Dank Smartphone kann ich heute fast von überall Bilder und Töne generieren und auch verschicken – in sendefähiger Qualität. Technische Gründe gibt es also für fehlende Berichterstattung weniger denn je. Allerdings: Wer nicht hingeht, wo etwas passiert, kann auch keine Bilder zeigen – dann gibt er eben nur Antworten, die andere verlautbaren.

 

Ja, es hat geschneit. Gut 60 Zentimeter innerhalb von zwei Tagen waren es bei uns am Schliersee. Heute ist Tag fünf nach den Schneefällen. Und zum ersten Mal seit Beginn des „Die-Bahn-steckt-im-Schnee-fest-Shotdowns“, höre ich wieder die Bayerische Oberlandbahn (BRB) wieder durch Tal tuten, wie sie es sonst immer tut - wegen der vielen unbeschrankten Bahnübergänge bei uns. Jetzt fährt sie also wieder – und ich sitze gerade drin im Zug, auf dem Weg nach München. An einem Räumtrupp an der Strecke, der Weichen freipult, bin ich gerade in Schleichfahrt vorbei getuckelt. Und viele umgestürzte Bäume entlang der eingleisigen Strecke ohne Oberleitung, habe ich auch gesehen. – Jetzt fährt sie also wieder, zumindest die BRB. Vielleicht hat die Bahn nicht alles falsch gemacht.   


Ihr, liebe Kolleginnen und Kollegen, habt etwas richtig gemacht, wenn ich meinem Bekanntenkreis demnächst fundiert erklären kann, warum die Schneefälle in Bayern tagelang für (Bahn-) Stillstand gesorgt haben und im Nachbarland Tirol nicht. Erst Versuche in diese Richtung habe ich heute gelesen, aber recht viel schlauer bin ich dennoch nicht. Momentan kann ich nur meine selbst zusammenphilosophierten geglaubten Wahrheiten verkünden – und das sollte sich schnellstens ändern. Also: Geht bitte raus!






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